Basel, 3. Juni 2018 

Drachenblut 

Über Paul Schraders Filme. Laudatio von Dominik Graf zum Ehrenpreis für visionäres Filmschaffen 2018. 

Mr. Schrader, schauen Sie auf uns, die wir hier für Sie versammelt sind, so als seien wir jene Art von Fans, die Sie selbst in Ihrem zum Heulen schönen Nachruf auf die heilige Kritikerin Pauline Kael, 2001, mit dem enigmatischen Wort Acolytes beschrieben haben. «Akolythen», zu deutsch «Altarjünger» – ich musste es nachschauen. 

 

Womit Sie auch sich selbst meinten, einst in der Frühphase, in der glühenden Schmiede der späten 60er und der aufdämmernden 70er als das Kino lichterloh brannte. Weil Filmkritiker überall auf der Welt es sozusagen angezündet hatten, in Frankreich, sogar bei uns drüben in Deutschland, und an vielen anderen Orten. Vor allem auch in den USA – auch Ihre Mentorin Pauline Kael mit ihrer bahnbrechenden Mix aus Leidenschaft und Gnadenlosigkeit. Und Sie selbst, zuerst mit Ihren eigenen Kritiken, und dann mit der einzigartigen Studie «Transcendental Style in Film». Aus dieser Keimzelle Ihres Denkens, aus der Erkenntnis von der Manifestation des Geistigen im Film – abgehandelt am Beispiel der ewigen Regie-Grössen Ozu, Carl Theodor Dreyer und Robert Bresson – aus diesen fundamentalen Fragen an das Kino hat sich dann in atemberaubender Geschwindigkeit der Akolythe, der Jünger zum Meister gehäutet. Immer konsequent und trotzdem oft überraschend spielerisch baut das Gesamtwerk «Paul Schrader» sich auf wie das Panorama einer Himalaja- Gebirgskette - oder entrollt sich wie ein inzwischen riesiger Teppich, dessen diverse, einander verschlingende Muster bislang noch nicht mal annähernd entschlüsselt sind.   

Der Taxi Driver, der American Gigolo, diese hypermodernen Männer-Figuren (Sie haben sie selbst mal bezeichnet als mentale «Drifter am Rande der Stadtgesellschaften»), diese Prototypen, die quasi eine Furche in unser kollektives Gedächtnis gegraben haben – man kann sie schier besingen! Das haben wir in Ihren Filmen bislang am schönsten gehört von Michael Been in Light-Sleeper. «To feel this way» ... Alle streben diese Einzelgänger nach Erlösung – mal wollen sie den vermeintlichen Schmutz der Gesellschaft vernichten, mal übernehmen sie Schuld und bezahlen den Preis dafür, mal finden sie den Weg zur Liebe. Diese Figuren, die alle vielleicht eine sind, die sich einander über die Jahre hinweg wie bei einem Staffellauf – William Dafoe 1991 von Richard Gere 1980 und der wiederum von Robert de Niro 1976 – einer dem anderen quasi die Fackel übergeben haben, die dann schliesslich von Woody Harrelson im samtweichen, aber innerlich beinharten The Walker 2007 ergriffen wurde, der damit die Schrader-Figur per se nochmal neu beseelte wie einen Wiedergänger. 

Zitat: «In Washington DC sollte man sich nie zwischen einen Freund und ein Erschiessungs- Kommando stellen». Das rät Lauren Bacall dem Walker, dem Freund der politischen Damenwelt, und sie sagt es so verführerisch wie sie einst ihre grossen Sätze in den Howard Hawks-Filmen flüsterte, «You know how to whistle, don't you?» - The Walker, dieser Film, der anfangs liebenswert und nur ein wenig boshaft daherkommt, der beim Kanastaspiel zwischen vermeintlich netten alten Damen und einem charmant sarkastischen Homosexuellen beginnt – The Walker ist eine super-elegante Studie über super-grausame Wahrheiten. Wenn Harrelson wie in einem Ritus seine Perücke vor uns vom Kopf zieht, nach nur acht Minuten, dann ahnt man in diesem Moment bereits, dass auf ihn, er heisst hier Carter Page der III., ein Höllen- Mechanismus wartet. Eine Henry James-artige Schraube, und sie wird ihn sozusagen komplett nackt erwischen. Es wird eine Kampagne mit Mordanklage gegen ihn geben, die wie eine Garotte seinen Hals langsam und tödlich abschnürt. Und die dabei auch Carter Page I und Carter Page II, seine legendären, bislang in der Hauptstadt so verehrten Vorfahren, gleich mit sich reissen. - «Hörst du das, Lancelot?» sagt er zu seiner Katze nach exakt einer Stunde Film. «Das sind die Türen, die sich überall in der Stadt schliessen.» Er weiss jetzt, er ist allein. Wird er sich retten? Will er sich überhaupt retten? 

In solchen existentiellen Momenten gibt es oft eine Einstellung von oben auf Paul Schraders Helden, flach wie Pfannkuchen liegen sie nachdenklich oder zerschmettert auf einem Bett. Auch auf William Dafoe hinunterblickend gibt es dieses Bild im überridisch nachtblau schimmernden Light Sleeper, nachdem er sich bei einer zufälligen Begegnung mit seiner früheren Lebens- und Drogen-Gefährtin eine geradezu apokalyptische Abfuhr eingehandelt hat. Und so von oben besehen scheint sich die Figur kurz vor dem Sturz ins Bodenlose zu befinden. Wie in einem Aggregats-Zustand zwischen Höllenfahrt und Levitation. Manchmal weiss man nicht, was ist eigentlich – ausser der Bewegungsrichtung- der Unterschied zwischen beidem? Von diesen Situationen, diesen Resümées ganzer Biographien, geht oft ein Erkenntnisprozess aus, der die Helden und den jeweiligen Film dann seinem Ende entgegentreibt. 

 

Mit was für einer Spannung wir seit Jahren jeden neuen Paul Schrader erwarten! Da ist immer dieser Kribbel, dass man nicht weiss, was diesmal kommen wird. Wird es dich überwältigen, in einen Strudel reissen, dich zum Nachdenken bringen, dir eine andere Welt zeigen, die du noch nie gesehen hast, oder die dir bekannte Welt auf den Kopf stellen, oder all das auf einmal? Jeder Film ist neu und frisch. Und man weiss immer sofort, warum Sie nun diesen, wieder oft ganz anderen Film gemacht haben. Was Sie daran fasziniert hat! Es ist eine kathartische Filmographie, zusammengekommen inzwischen, sich selbst pausenlos in Frage stellend, zu 95 Prozent mit Höchst-Risiko. Und auf die Filmographie als Ganzes, als pausenlose Revolte und Kontinuität gleichzeitig, kommt es letztlich an. 

 

Es ist ein Kampf, 40 Jahre lang auf einer solchen Höhe zu balancieren! 

Eine Zentral-Regel der Nouvelle Vague lautete: wenn man einen Regisseur, einen Autor wie es damals immer hiess - oder eine Autorin - liebt, dann liebt man alles von ihm oder ihr. Auf keinen Fall nur die Triumphe - die auch. Aber nein, vor allem die Filme, die es schwerer haben, die unauffälligeren oder die viel- kritisierten. Die liebt man besonders, weil sie gerade in der Bekenntnishaftigkeit, mit der sie den persönlichen Stil offenbaren, den «Kern des Werks» eines Autors in aller-reinster Form freilegen. Und weil deshalb diese Werke der geliebten Autoren immer auf jeden Fall allesamt weit besser sind, als die vermeintlich gelungenen Filme der Everybody's Darling-Regisseure. derjenigen, die ja im Grunde nur Produzentenknechte geblieben sind, und die sowieso verdammt sein sollen für alle Zeiten. 

 

Das Prinzip der Liebe zu den Film-Autoren war bei Truffaut und Godard einst in Stein gemeisselt wie ein romantischer Schwur aus der Ritterzeit. Kritiker schreiben aber heute anders, sie leisten keine Treue-Bekenntnisse mehr. Sie heben Daumen hoch oder senken sie, sie geben Prozentpunkte für Spannung, Erotik und «Anspruch». Man nennt es Servicekritik. Und wenn dann ein Regisseur innerhalb seiner Gebirgskette offenbar jetzt zum x-ten Mal auf einen Gipfel zugesteuert ist, einen neuen Höhepunkt, dann fallen Begriffe aus dem Wörterbuch der Gemeinplätze wie «dieser Film ist sein bester Film seit langem». Anlässlich des sensationellen Werks First Reformed gehen einige im Vergleich zurück bis Taxi Driver. 

 

Aber - neben dem erfreulichen Lob - fragt man sich ja dann auch immer, was heisst denn das bitte? Zwischen diesem «seit langem» und jetzt, heute, dem Meisterwerk - da liegen ja vielleicht ein oder zwei Dutzend andere Filme. Und man sagt sich als Regisseur: naja, ok, all die anderen, bei denen hab ich mir eigentlich auch Mühe gegeben? 

Ich habe First Reformed noch nicht gesehen, Sie hier in Basel haben ihn alle gesehen und ich erblasse vor Neid. Aber ich habe den vorletzten Film gesehen, Dog eat Dog, und da sah ich den Regisseur Schrader auf Höchstniveau. Abgedreht, traurig, sehr sehr witzig, brutal, zynisch, rührend. Vom ersten Moment erlebt man da mit offenem Mund William Dafoe und später Nicholas Cage als Gangster – Cage durchgedreht, melancholisch, schiesswütig. Dafoe, der hier anfangs in einem pinkfarbenen Clip-Alptraum eine irrwitzige Untat begeht. Diese beiden, zusammen mit einem Auftraggeber namens El Greco (den Paul Schrader selbst spielt) , versuchen zwei Coups zu erledigen, der erste ist klein und zu bewältigen, der andere deutlich anspruchsvoller, sodass der Film sich von da an in eine Katastrophe vorarbeitet wie eine Dampfwalze, in Blut badend, und schliesslich hinein in ein irreales gnädiges Licht. Man kann hier förmlich spüren, wie Paul Schrader jegliche Trauer oder Zorn über die Auseinandersetzungen mit Geldgebern in den Jahren zuvor einfach abwirft wie einen alten Mantel und inszeniert wie ein genialer Zwanzigjähriger. Naja – 25-jähriger. 

 

Und ich habe natürlich auch den Film vor Ihrem vorletzten Film gesehen, Mr. Schrader - The Dying of the Light. Ich weiss, es gab gewaltige Schnittprobleme - aber in Dying of the Light erzählt (wiederum) Nicolas Cage als alternder CIA-Agent auf letztem Kriegspfad, dass seine extrem aggressive Krankheit, eine «frontotemporale Demenz», die ihn binnen 3 Jahren hundertprozentig töten wird - dass diese Krankheit in der Frühphase eine seltsame Detail-Ausprägung hat. Und zwar wirkt der Kranke gegen Abend oft stark desorientiert, hat Panik, kann sich an den eigenen Namen nicht erinnern. Das Phänomen nennt man «Sundowning», erzählt Cage seinem jüngeren Kollegen, und sieht dabei gehetzt aus wie ein Tier. «Sundowning», das erinnert einen einerseits an die Cocktails der Eltern in den 1960ern, aber andererseits auch an die biblische Geschichte der Jünger von Emmaus, denen unterwegs angeblich Jesus nach seinem Tod begegnete. Den sie aber nicht erkannten, und ihn nach einem langen Gespräch dennoch baten: "Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden." Vielleicht einer der schönsten Sätze des neuen Testaments.
 
Hier, nachts im Schnee-bedeckten Bukarest auf einer Parkbank vor Ceaucescus gigantischem «Haus des Volkes», zeigt sich den beiden CIA-Agenten natürlich kein Begleiter. Sie bleiben allein, der tief verwundete Cage und sein grandioser junger Co-Star Anton Yelchin, der zwei Jahre später so tragisch verunglückte. Später im Film sitzt Cage nochmal in einem Hotel, draussen leuchtet über Mombasa eine letzte Abendsonne wie eine Messerklinge, und er spürt, wie die Dämonen kommen.

Am Ende des Tages, im sinkenden Licht legt sich auch in The Comfort of Strangers immer so etwas wie eine Lähmung auf das Liebes-Paar Rupert Everett und Natasha Richardson in Venedig. Immer wenn es dunkel wird taumeln sie quasi willenlos dem Mörderpaar Christopher Walken und Helen Mirren in ihrem Palazzo entgegen. 

 

Dieses tiefstehende harte Licht der untergehenden Sonne im Kino fungiert bei den ganz grossen Meistern oft als Erkenntnis und Blindheit zugleich. Man hört gleichsam noch den Orchesterton mit dazu, der in Roberto Rossellinis Taten der Apostel das Licht begleitet, das den Statthalter Saulus von Tarsus trifft, ein langgezogener Streicher und Bläser-Ton. Und man kann sagen: die Wahrheit hat ihn mit Blindheit geschlagen.

 

Hier in Basel, Ursprung einer der drei grossen Reformkirchen der Schweiz mit Zürich und Genf - in Basel wars Johannes Oekolampad, in Zürich wars Zwingli, in Genf Calvin, hier denkt man unwillkürlich daran, dass die 3 sich in vielen Dingen einig waren, aber vor allem darin, dass Bilder Gottes verwerflich seien, weil Gott unsichtbar sei. Über Calvin muss ich Ihnen ja nun wirklich nichts erzählen, aber gerade an dieser Stelle kann man vielleicht fragen: das Licht, es ist übrigens das Wort, das übrigens am häufigsten in Schraders Filmtiteln auftaucht, dieses Bild des Lichtblitzes - wofür steht es? 

 

Ok. Und ich habe auch Ihren vor-vor-letzten Film gesehen. The Canyons, ein brandgefährliches Kammerspiel von Sex und Verführung, ganz anders verstörend und existentiell und ästhetisch wieder neu. Und so könnte ich weitermachen. All das ist Paul Schrader. Dies zum Thema der letzte Film sei «sein bester Film seit langem». 

Die Regel der unbedingten Autoren-Liebe durch dick und dünn, die ist inzwischen ausser Kraft gesetzt. Sie wird auf Filmhochschulen nicht mehr gelehrt und nicht mehr erwähnt und nicht mehr geschätzt, weil das moderne Produktions-System sie fürchtet. Das System benötigt Regisseure, die Rezepte der Auftraggeber nachkochen. Keine Regie-Ikonen, die uns – und sich selbst – jedes Mal überraschen.


Und natürlich muss man in diesem Zusammenhang auch über die Kämpfe mit den Produzenten, mit den Verleihern sprechen. Das System ist mental fast überall dasselbe geworden, auch wenn es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Masken trägt. Ob nun ein «Studiosystem», ob alt oder neu, oder ein staatliches Fördersystem wie bei uns hier in Europa - es geht nie wirklich um gute Fime, es geht zumeist um Macht und um Kontrolle.

 

Auch in Deutschland gibt es Produzenten, die stolz in Interviews vermelden, bei ihnen käme kein Regisseur mehr in den Schneideraum. Kevin Jackson hat im September 2003 sein Vorwort für die Neuausgabe des Buchs «Schrader on Schrader» beendet mit dem Satz, betreffend den Skandal um Ihre Version von Dominion: «..Once again, the Industry had showed, just how hard it can make life for Schrader».

 

Wenn man jung ist und von der Filmschule aus auf das Produktions-System schaut, dann denkt man, oh mein Gott, was haben da für endlos viele Idioten das Sagen! Ich kann ja froh sein, wenn ich mit ein, zwei guten Arbeiten am Ende davonkomme. Während man dann später im Geschäft älter wird, denkt man vielleicht – und das vollzieht sich unmerklich – naja, ich hab doch ein paar Sachen hingekriegt, und das System wäre vielleicht gut beraten, mich weiter zu unterstützen. Aber so läuft der Hase nicht. Man übersieht, dass die – inzwischen erstaunlich viel jünger gewordenen Klugscheisser im Produktions-System um einen herum – weder heute noch gestern jemals dazu da waren, innovative Filme zu finanzieren. Man muss ihnen Filme, wie Paul Schrader sie en bloc gemacht hat unter dem Hintern wegziehen wie ein Sitzkissen. Ohne dass sie es merken. Gute Filme sind immer Schmuggelware.

 

Und wenn es bei dieser Strategie dann Niederlagen setzt – ja, dann sollte man allerdings die Kraft aufbringen, sie in solche Befreiungsschläge zu verwandeln, so eingelegt in böse, marinierte Splatter-Sosse, wie Dog eat Dog beispielsweise einer war. Einer von vielen.

Paul Schrader, Sie machen einfach weiter. Wie gebadet in Drachenblut, unverwundbar scheinbar, vielleicht bis auf die eine verletzliche Stelle, wo die Lindenblätter zu liegen kommen ... verzeihen Sie bitte das dramatische germanische Bild.

Wir verneigen uns vor Ihnen in tiefer Dankbarkeit, Sie sind ein einzigartiges Vorbild an gelebter Intellektualität, Leidenschaft und an künstlerischer Integrität des Filmemachens. Und im Dunkel des Kinos selbst sozusagen – soweit dieses Dunkel noch existiert – fordern Sie uns heraus, zeigen uns mythische Abgründe und Konflikte, erzählen komplexeste, einander widerstrebende Emotionen über verlorene, schlingernde, im Auto-Focus versinkende, ankerlose Hauptfiguren, die Sie zwischen Entscheidungen stellen wie zwischen mahlende 

 

Mühlsteine. Ihre Figuren, das sind wir, jeder einzelne, im Tumult dieser Zeit. Einer Zeit, die sich aufführt, als wäre sie ein neues dunkle Welt-Ära nach einem Gottes-Mord.

 

Wer wenn nicht Sie hat diesen Preis als erster verdient. Wir gratulieren Ihnen zum Ehrenpreis für visionäres Filmschaffen. 

 

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