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Nachhall:

Mit Reni Mertens und Walter Marti in die Zukunft

Essay von Olaf Möller

Reni Mertens und Walter Marti schufen ab den 1960er-Jahren ein avantgardistisches, dokumentarisches Œuvre, dessen Formenvielfalt, Dringlichkeit und Anspruch bis heute inspirieren. 20 Jahre nach ihrem Tod würdigt das 9. Bildrausch – Filmfest Basel die Pioniere des Jungen Schweizer Films mit einer Hommage. Das Spezialprogramm Nachhall: Mit Reni Mertens und Walter Marti in die Zukunft beleuchtet die wichtigsten Stationen des Autorenpaars, das als Filmemacher, Produzenten und Mentoren eine ganze Generation von Schweizer Filmschaffenden beeinflusste. In Filmgesprächen und einer Podiumsdiskussion fragen Weggefährtinnen und Freunde wie Erich Langjahr, Rolf Lyssy oder Fredi M. Murer nach der Bedeutung und Botschaft ihres Werks, gestern und heute.

 

Erinnerungen werden eine zentrale Rolle spielen, wenn bei Bildrausch 2019 das Schaffen von Reni Mertens & Walter Marti wiederentdeckt wird, sind die beiden Filmschaffenden doch schon vor rund zwei Dekaden verstorben, zuerst er am 22. Dezember 1999 (*10.7.1923), dann sie, kein Jahr darauf, am 26. September 2000 (*8.4.1918). Viele Weggefährten, Freunde und Kollegen, darunter Erich Langjahr, Rolf Lyssy, Fredi Murer und Moritz de Hadeln, werden kommen und davon berichten, wie das Leben und Arbeiten mit diesen Ausnahmegestalten des internationalen Kinos war. Und um es gleich zu sagen: kein einfaches, gehörte das Duo doch zu den streitwilligsten Persönlichkeiten ihrer Zeit und Welt – vor allem Marti war gefürchtet für den Furor seiner Worte.

 

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Womit man schon bei der wichtigsten Qualität ihres Kinos wäre: Es mag stets von Engagement und Kampfgeist getrieben sein – die Formen, zu denen Mertens & Marti in ihrer Arbeit Film für Film fanden, sind aber so nüchtern in der Darlegung der Belange wie ergreifend in den Bildern und Klängen, Stimmungen. Da ist nichts hitzköpfig Hingeschludertes: Sei es eine grosse, über Jahre entstandene Arbeit wie ihr wohl berühmtestes Werk, Ursula oder das unwerte Leben (1966), sei es ein schnell aus dem Augenblick auf Dritt-Anfrage hin geschaffener Film wie Gebet für die Linke (1974) – jede ihrer Arbeiten charakterisiert eine ganz strenge, dabei ästhetisch direkt ansprechende formale Durchgestaltung. Selbst ein offenbar streitbares Werk wie Im Schatten des Wohlstandes (1961), der nach seiner Erstausstrahlung von den Zürcher Behörden verboten wurde, gibt sich inszenatorisch kühl und ein wenig didaktisch. Sinnvollerweise, denn: Gerade weil der Film so exemplarisch Zusammenhänge aufweist zwischen asozialen Verhaltensformen von Kleinkindern und dem Dauerstress des kapitalistischen Lebens, ist er so bezwingend. Man kann sich der Argumentation von Im Schatten des Wohlstandes verschliessen, aber nur schwer deren Herleitung widerlegen – auch, weil Mertens & Marti ein brillantes Gleichgewicht gefunden haben zwischen Informationen und Gefühlen. Und das ist wichtig: Kulturell hätten wirs gerne, wenn Argumentationen eine rein intellektuelle Leistung wären – aber da wir Menschen sind, müssen wir die Dinge auch fühlend nachvollziehen können.


Um etwas zu bewegen, muss es bewegen; doch um zu bewegen, braucht es sinnvolle Argumente, Bilder und Worte und Klänge, welche man erst einmal finden muss; und jede neue Sache bedarf einer anderen Herangehensweise. Alle Filme von Mertens & Marti sind zwar Dokumentationen, doch inszenatorisch haben sie sich nie wiederholt, selbst wenn es ästhetische und/oder methodische Nahverhältnisse zwischen einzel- nen Filmen gibt, z.B. in der Art, wie Ursula oder das unwerte Leben und Gebet für die Linke in Kapitel unterteilt sind, oder wie Héritage (1980) und Requiem (1992), aber auch Krippenspiel (1953 & 1962) ohne Sprache auskommen. Totale inszenatorische Antithesen gehören letztlich auch dazu, siehe allen voran die beiden Porträts Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann (1973) und Héritage: Ersteres ist ein Monolog, bei dem man dem Schriftsteller W. M. Diggelmann eine Stunde ununterbrochen zuhört und -schaut, sich ihm so ausliefert, wie er sich der Kamera aussetzt – Letzteres eine wortfreie Montage, bei der einem der Künstler und Komponist Peter Mieg allein über seine Musik sowie Bilder seiner Privaträume näherkommt. Ob in diesen komplett gegensätzlichen Zugängen ein Klassenantagonismus formuliert wird? Zumindest ward Diggelmann in ärmste Verhältnisse geboren und blieb in besseren Kreisen anscheinend immer ein Fremder, alldieweil sich Miegs gutbürgerliche Herkunft in seiner Lebenswelt widerspiegelt ...

 

Mertens & Marti erwiesen sich als angenehm undogmatisch offen für alle möglichen Gestaltungsformen, ganz im Einklang mit ihrer Rolle als Mentoren, gerade in den 1960ern: Mit Alain Tanners Les apprentis (1964) produzierten sie z.B. ein Meisterwerk des Direct Cinema, ein Idiom, das ihnen selber fernlag (und dessen Ästhetik sie 1977 in ihrer eigenen kritischen Fortschreibung des Unterfangens À propos des apprentis so subtil wie klug kommentierten); während sie mit Rolf Lyssys verschrobenem Eugen heisst wohlgeboren (1968) auch einen Spielfilm aus der Taufe hoben (parenthetisch erwähnt sei, dass zu ihren vielen unrealisierten Projekten ein Animationsfilm gehörte).

 

Um es ganz direkt zu sagen: Die Werke von Mertens & Marti sind ungeheuer schön. Und sie sind sehr klug, freigeistig, grosszügig, dem Menschen als kleinstem und doch einzig wichtigem Baustein des Kollektivs Gesellschaft in Nächstenliebe zugewandt. Darin sind sie ganz dicht bei ihren Lehrmeistern: Bertolt Brecht, Ignazio Silone und Cesare Zavattini (ein Dramatiker/Lyriker, ein Romancier und ein Drehbuchautor), die sie alle in Zürich im Debattierklub von Reni Mertens kennengelernt hatten – und wo sich auch Marti und Mertens zum ersten Mal begegnet waren. Anlässlich von Gib’ mir ein Wort (1988) brachte Reni Mertens ihrer beider Zugang zur Welt einmal so auf den Punkt: «(Unsere ist) die Haltung derjenigen, die es nicht besser wissen, sondern wissen wollen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man diese Neugier, dieses kindliche Staunen mit dem Alter nicht verliert. Darin liegt das Mysterium unseres Schaffens und die Qualität einer dokumentarischen Arbeit, die poetisch ist.»


Dazu passt, dass ihr berühmtestes Werk, Ursula oder das unwerte Leben, einen Lernprozess erzählt, und wie schwer es ist, sich Wissen anzueignen, also Eindrücke zusammenhängend zu verarbeiten. Der Weg dahin war lang: 1953 hatten Mertens & Marti einen ersten Film mit der Rhythmikerin und Heilpädagogin Mimi Scheiblauer realisiert: Krippenspiel. Neun Jahre darauf folgt eine neue Version desselben Stoffes bzw. Vorgangs: ein von Scheiblauer inszeniertes Krippenspiel mit Gehörlosen; dazwi- schen entstand Rhythmik (1956), der Scheiblauers Methode vorstellt. Ursula oder das unwerte Leben dann ist die Synthese ihrer aller Bemühungen: Der Film zeigt anhand der taub-blinden und geistig behinderten Ursula Bodmer, wie sich mit Scheiblauers Prinzipien und Praxis ein Mensch weiterentwickeln, lernen kann. Was heute vielleicht am meisten erstaunt an Ursula oder das unwerte Leben, ist das Kristalline der Bilder, deren Nacktheit, überhaupt das Skulpturale des gesamten Films (zu dem auch der Kommentar, gesprochen von Helene Weigel, einen Beitrag leistet). Eine solche Ästhetik würde man bei einem Unterfangen dieser Art nicht erwarten, und sei es nur, weil es etwas implizit Undramatisches hat. Mertens & Marti sind aber auch nicht an einem Drama interessiert, weil es dem Lernen seine Selbstverständlichkeit nähme. Und um die geht es hier: Jeder Mensch kann lernen, wenn man einen Artikulationsweg zu ihm findet. Die Suche nach solchen Wegen: Das ist das Kino von Mertens & Marti.

 

Aber dazu braucht es auch eine Zeit und einen Raum, in dem solche Versuche wertgeschätzt werden. Auf der Berlinale 1993 lief als Sondervorführung ein Doppelprogramm, bestehend aus Mertens & Martis Requiem und Alain Ferrari & Thierry Ravalets Un jour dans la mort de Sarajevo (1992), gezeigt in dieser Reihenfolge. Kurz nach Beginn von Requiem waren erste Unmutsäusserungen zu hören, die bis zum Ende des Films lauter und lauter wurden. Was machte so erschreckend viele Zuschauer derart aggressiv an diesem Filmgedicht über Soldatenfriedhöfe, das Gedenken an die Abermillionen von Kriegsopfern – und über jenes merkwürdige Wunder namens Kultur, das Schönheit zu schaffen vermag aus dem Unsagbarsten an Leiden? Der Kontext war sicherlich ein Grund: Den aktuellen Krieg wollte man, die neuen Bilder sehen, die prononcierte Meinung eines Bernard-Henri Lévy hören – Requiem sprach hingegen von der Vergangenheit, evozierte Gefühle und Erinnerungen, machte nachdenklich statt mobil. Auf seine sehr eigene Weise will Requiem gestrig sein, weil er sich ein Morgen ohne diese Bauten ersehnt. Implizit macht er klar, dass schon alles zu spät ist, wenn die Un jour dans la mort de Sarajevos kommen. Dann ist da die Form: Requiem besteht nur aus Bildern und Klängen, funktioniert frei von Sprache, bietet keine Erklärungen oder Deutungen an. Zu sehen sind Reihen um Reihen von Grabsteinen, arrangiert zu gewaltigen Mustern in der Landschaft; nur manchmal kommen auch Friedhöfe ins Bild, die kleiner sind, fast intim, und weniger strukturversessen in ihrer Anlage. Dazu stets Musik, die man mal kommentierend wahrnehmen kann und mal als etwas Eigenständiges, das neben den Bildern für sich selbst existiert, einen manchmal dazu verführt, sich in dem Taumel der Eindrücke zu verlieren, doch dann auch wieder rausstösst, so dafür sorgt, dass man immer wieder neu sich zu den Gräbern verhalten muss. Etwas war zerbrochen in der Welt, dass man Requiem so begegnete. Nicht überall, bewahre! Dieser Abend war bestimmt eine Ausnahme. Und dennoch blieb er in Erinnerung, weil sich darin zeigte, wie zerbrechlich dieses Kino ist.

 

Ein Kommentar Walter Martis zu Gebet für die Linke öffnet hier vielleicht Wege. Er sagte: «Mit ‹beten› meine ich, die Dinge anschauen und sich besinnen, ein konzentriertes In-sich-Gehen aus dem Bedürfnis, das scheinbar Unlösbare zu lösen. In diesem Sinne ist der ganze Film ein Gebet.» Wenig wirkt unlösbarer als das, was sich in den Soldatenfriedhöfen offenbart über unsere Zivilisation; oder ein taub-blinder und geistig behinderter Mensch, dessen Innenleben sich allem entzieht, was wir uns vor- stellen können; oder ein Mensch allein vor einer Kamera, der sich zeigt und spricht, mit Worten ringt und mit der Zeit, die ihm bei dieser Gelegenheit bleibt, und der dieser Situation ähnlich hilflos gegenübersteht wie all die Menschen, welche das Dokument später sehen werden – was kann ein Einzelner sein für andere? Aber man muss sich auf den Weg machen, sich dem Unlösbaren hingeben. Walter Matthias Diggelmann tat das, als er das Angebot von Reni Mertens & Walter Marti annahm, eine Stunde unun- terbrochen vor Kamera und Mikrofon zu sprechen, und Mertens & Marti, als sie ihm dieses Angebot machten. Nur so findet man manchmal dann doch eine Lösung. Das Schaffen von Mertens & Marti ist vergleichsweise klein geblieben – aber jeder Film, den sie geschaffen haben, enthält die Ahnung einer Lösung. Das ist sehr, sehr viel.

 

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