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Joana Hadjithomas & Khalil Joreige

Wider das Vergessen –

Geschichten aus dem Libanon

Essay von Jean Perret

Wer den Krieg und seine Auswirkungen erfahren hat, erzählt mit einem anderen Blick: Das Auge ist sensibler, reflektiert feiner und reagiert heftiger auf das, was war und das, was ist. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige betreiben diese Art des außergewöhnlichen Sehens seit 25 Jahren. Die Filme, Fotografien und Installationen des libanesischen Künstlerpaares hinterfragen die Rolle von Bildern und Erinnerung in Bezug auf die grausame Geschichte ihrer Heimat und verfolgen deren Narrative mit Neugier und Mut zur Grenzüberschreitung bis in die Gegenwart. Ihr Besuch im Gedanken/Raum eröffnet die große Chance, ihr zutiefst persönliches, politisches und zugleich poetisches Werk aus der direkten Perspektive des Schaffens heraus kennenzulernen.

 

Die Arbeiten von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, die beide im Sommer 1969 in Beirut geboren wurden und während des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) aufgewachsen sind, schürfen Spuren der Geschichte eines Landes auf, das bis heute von Kriegsgewalt, Attentaten, Korruption und mafiösen Zuständen in der Politik gezeichnet ist. Das Künstler:innenpaar studierte in Paris Literatur – nicht etwa Kunst oder Film –, und ab 1989/90 nahmen sie erste Bilder auf, die sich mit den Verwüstungen des Krieges und den gewaltigen Ruinen im Libanon befassten. Von Anfang an engagierten sie sich, geleitet von einem Gefühl der Dringlichkeit, gegen die von den libanesischen Behörden immer wieder orchestrierte Geschichtsvergessenheit, die für so erschütternde Ereignisse wie der katastrophalen Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 oder der Ermordung von Persönlichkeiten wie dem Filmemacher, Herausgeber und Aktivisten Lokman Slim am 4. Februar 2021 mitverantwortlich ist.

 

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Im resultierenden Chaos kommen Verantwortliche zumeist straflos davon. Ein Zustand, der geradezu radikale ästhetische, poetische und politische Gesten verlangt. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige leisten solche auf bewundernswerte Weise: Sie ermöglichen die Verarbeitung historischer Traumata, indem sie uns Wahrheiten vor Augen führen, Gedächtnislücken schliessen und so einen möglichen Weg in die Zukunft weisen.

 

Eine ihrer neusten im Centre Pompidou in Paris installierten Arbeiten (im Herbst 2017, ausgezeichnet mit dem Prix Marcel Duchamp) bestand aus zylindrischen Bohrproben, die aus dem Boden verschiedener Baustellen in Beirut, Athen und Paris stammten. Die Installation namens «Unconformities» (Discordances) zeigte in langen Glasröhren die übereinander gelagerten Bodenschichten als Abbilder des tiefen Untergrunds. Sie zeugten von den Transformationen, Konstruktionen und Zerstörungen vergangener Zeiten, von geologischen und menschlichen Katastrophen. Gemeinsam mit Fachleuten aus den Bereichen Geologie, Archäologie, Geschichte und Stadtplanung legten Joana Hadjithomas und Khalil Joreige die Überreste einer verschütteten Vergangenheit in ihren faszinierenden Kontinuitäten und Brüchen frei. Es sind genau diese langfristigen Bewegungen, welche die Erde in Überlagerungen von Ordnung und Unordnung schweigend in sich verbirgt; es ist dieses unvermutete Spektakel von Materialien, Dichten, Farben, das die beiden Künstler:innen mit ihrer Kamera aufspüren.

 

Die kostbaren Proben aus der Dunkelheit der Erde brachten Palimpseste ans Licht, eben «Unconformities », die sinnbildlich sind für das Gesamtwerk von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Es geht den beiden darum, aus den Mäandern der gegenwärtigen und vergangenen Geschichte die vergessenen, ausgelöschten, zurückbehaltenen und versteckten Beweise zu extrahieren, um Denkmuster, individuelles und kollektives Bewusstsein zu verändern und Erinnerungen freizulegen. Neben zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen, Publikationen und Lehraufträgen entstanden in den letzten fünfundzwanzig Jahren rund ein Dutzend Filme. Spiel- und Dokumentarfilme existieren nebeneinander, von Autour de la maison rose (1999), einer politischen Komödie über den Wiederaufbau des Nachkriegslibanon, bis zu Khiam (2000–2007) mit Zeugnissen von Menschen, die in einem Gefängnis im Südlibanon gefoltert wurden. Oder von Film perdu (2003), einer Spurensuche nach einer gestohlenen Kopie von Autour de la maison rose, die im Jemen der Zensur zum Opfer gefallen sein könnte, bis zu Je veux voir (2008), in dem die Filmikone Catherine Deneuve und der berühmte libanesische Schauspieler Rabih Mroué in die realen Schauplätze der Verwüstung nach dem Krieg im Südlibanon aus dem Jahr 2006 eintauchen und auf Momente der Wahrheit stossen. Etwa, wenn ihr Mroué gerne sein Elternhaus gezeigt hätte, das jedoch in Trümmern liegt und für immer zerstört bleibt. In A Perfect Day (2005) konfrontieren die Filmschaffenden ihren improvisierenden Cast mit alltäglichen Situationen in einem Beirut, das sich nur zögerlich vom Bürgerkrieg erholt.

 

Auch ihre Kurzfilme verdienen Beachtung: In Barmeh (2002) sinniert ein Autofahrer über den Wiederaufbau nach dem Krieg, Don't Walk (2004) basiert auf den tagebuchartigen Filmaufnahmen der beiden Künstler:innen, die sie zwischen Oktober 1999 bis Februar 2000 aufgenommen hatten. Der mittellange Ismyrne (2016) fokussiert auf eine Konversation zwischen Joana Hadjithomas und der Dichterin und Malerin Etel Adnan über ihre genealogischen und imaginären Verbindungen zu Smyrna, einer türkischen Stadt, die beiden keine Bleibe bot. Der Film macht die autobiografische Dimension sichtbar, die den Werken der Filmschaffenden eigen ist. Dies gilt auch für ihren neuesten Film, eine temporeiche Fiktion, die im Wettbewerb der Berlinale lief. Die Memory Box (2021) fördert tausend Fragmente intimer Geschichten zutage, die verdrängt wurden in schmerzhafter Selbstverleugnung – auch hier wieder mit den Katastrophen im Hintergrund, die den Libanon auseinandergerissen haben. Einem fürchterlichen Bürgerkrieg etwa, in dem sich unzählige religiöse und politische Gruppierungen bekämpften, verschiedene Massaker verübt und über 800'000 Menschen in die Flucht getrieben wurden.

 

Die Filmarbeiten des Paares mit ihren Querbezügen zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind insbesondere deshalb zeitgemäss, weil sie sich nicht streng an etablierte Gattungen wie den Dokumentarfilm, die Fiktion oder das Experiment halten. Sie erzählen ihre wahren Geschichten mit einem grossen Erfindungsreichtum und spielerischer Unbeschwertheit. Ihre Anliegen sind dringlich, aber nie lassen sich die beiden Filmschaffenden auf eindeutige oder kategorische Diskurse ein. Ihre bevorzugte Form der Stellungnahme ist diejenige des Essays – Joana Hadjithomas und Khalil Joreige schaffen Bewusstsein und Erinnerungen für libanesische Geschichten, die jahrzehntelang durch reaktionäre und regressive Kräfte des Landes unterdrückt wurden. Und darin liegt auch die universelle Qualität ihrer Filme: Sich für das Unausgesprochene einzusetzen, hat weit über den Libanon hinaus einen beispielhaften Wert. In einer ihrer Installationen mit dem Titel «Le Cercle de la Confusion», die 1997 an vielen Orten gezeigt wurde, luden sie die Besuchenden ein, eines von dreitausend Magnet-Teilen zu entfernen, aus denen sich ein riesiges Luftbild von Beirut zusammensetzte. «Beirut existiert nicht» stand auf der Rückseite jedes Fragments. Nach und nach verschwand die Stadt und enthüllte einen riesigen Spiegel, in dem sich alle selbst erkennen konnten. So waren alle ein Teil dieser Stadt, die für Städte und Kulturen der Welt an sich steht, in denen jede:r seine eigene Menschlichkeit erkennen sollte.

 

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