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Félix Dufour-Laperrière

Inseln im Strom

Essay von Olaf Möller

Sein Werk umfasst gerade Mal drei Lang - und ein Dutzend Kurzfilme – aber mit jeder dieser Arbeiten hat sich der frankokanadische Filmemacher Félix Dufour-Laperrière als einer der ausserordentlichsten Kinokünstler der letzten zwanzig Jahre bewiesen. Beheimatet im Animations- wie Dokumentarfilm (und ausgreifend in die Sphären der Performance, Fotografie und graphischen Gestaltung) werden in Dufour-Laperrières Schaffen Formen- wie Genregrenzen weniger grob gebrochen als liebevoll gebogen – so lange, bis etwas entsteht, das ganz persönlich, intim und eigenwillig ist und gleichzeitig geprägt von einer Liebe zum einheimischen Kino und dessen gewaltiger Tradition eines poetischen-spielerischen Experimentierens für die Massen. Dufour-Laperrières Werke sind schlicht betörend, mal in ihrem feinsinnigen Minimalismus mal in ihrer Farbenpracht und ihrem Reichtum an Texturen. Bildrausch freut sich, die weltweit erste Hommage an den aussergewöhnlichen Künstler präsentieren zu dürfen und bietet mit sämtlichen Langfilmen sowie einer Auswahl seiner kurzen Arbeiten einen ebenso lyrischen wie explosiv-farbigen Einblick in ein Werk, in dem sich das Persönliche und das Politische oft ineinander spiegelt.

 

Zu den grössten Qualitäten des Schaffens von Félix Dufour-Laperrière gehört, dass es sich allen vordergründigen Zuschreibungen entzieht wenn nicht gar widersetzt – und wie! Spiel-, Dokumentar-, Animations-, Avantgardefilm: Jede Art von Kreativitätigkeit ist Dufour-Laperrière nahe, und jede findet sich auch in seinem Werk. Zudem beschränkt er sich nicht aufs Filmemachen: Dufour-Laperrière hat eine kleine, feine Frühgeschichte als Fotograf; später beteiligte er sich auch an Installationen und Künstlerbüchern.

 

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Allerdings ist es dann doch die Animation, die sehr klar im Vordergrund steht, auch weil es das ist, was Dufour-Laperrière an der Concordia University in Montréal studiert hat. Wobei die gezeichnete Raymond Carver-Adaption Ville Neuve (2018) wohl seine einzige Arbeit ist, die in ihrer Konzentration auf eine Technik (Tinte auf Papier), der allgemeinen Vorstellung von Animation entspricht. Ästhetisch stellt die lyrische Verhandlung des Endes einer langen Paarbeziehung, die Dufour-Laperrière vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitsbestrebungen von Québec erzählt, die Ausnahme in seinem Schaffen dar, die Zuspitzung einer ästhetischen Tendenz, deren erste Ausformungen man in Dynamique de la pénombre findet, einem dialoglosallegorischen Kurzspielfilm, in dem ein Paar mit minimalistischen Gesten ausagiert, was in dem späteren Langfilm trotz allem Zögern, Zaudern und Hadern mit Worten gewaltig ausdiskutiert wird.

 

Es besagt viel über die Geschlossenheit der Vision Dufour-Laperrières, dass seine bislang einzige im Gestus etwas klassischere Dokumentation, der meditative Reisefilm Transatlantique, mit seinen schwarz-weissen Bildern, den wenigen, sehr ausdrucksstarken Linien sowie einer generellen Verweigerung allen Ornaments der Animation Ville Neuve vom Eindruck her am nächsten ist – wenn man sich nicht irritieren lässt vom Unterschied zwischen gezeichnetem und fotografiertem Bild. Dass in Transatlantique 5.517km Seeweg überbrückt werden, sich in Ville Neuve hingegen alles auf einigen wenigen Kilometern abspielt, hat auf den ersten Blick jene subtile Ironie, welche Dufour-Laperrières Schaffen durchzieht. Dann aber merkt man vielleicht auch, dass das Frachtschiff auf dem Weg von Antwerpen nach Montréal genauso sehr eine Insel ist im Strom der Zeit wie das Haus am Meer, wo Ville Neuve zum grössten Teil spielt. Die Zeit fliesst immer, vor allem im Kino, selbst wenn alles stillzustehen scheint.

 

Seine aktuelle Animation, Archipel (2021), ein lyrischer Essay über die Zukunft und Geschichte Québecs, ist mit ihrer Basis in der Collage ungleich typischer für Dufour-Laperrières grundsätzliches ästhetisches Empfinden. Vorstudien-gleiche Kurzfilme wie Encre noire sur fond d’azur oder Un, deux, trois, crépuscule weisen den Weg dahin. Zudem zeigt sich hier auch, dass Dufour- Laperrière ein sehr gelassenes Verhältnis zu allen Fragen des Künstler-Egos hat: Er ist zwar als alleiniger Regisseur kreditiert, betont in Gesprächen zu dem Film aber immer wieder, dass die beteiligten Animator: innen weitestgehend frei arbeiten konnten. Es gab zwar einen klaren, das Gesamtprojekt definierenden Plan, eine grundsätzliche ästhetische Linie, alles jenseits dessen aber blieb den Animationsverantwortlichen der einzelnen Sequenzen selber überlassen. Zudem suchte sich Dufour-Laperrière eine Gruppe von Animator: innen zusammen, die in ihren Interessen und Fertigkeiten eine Vielzahl an Techniken abdeckten, auch durchaus unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was Animation ist und was sie wie zum Ausdruck bringt. Für Dufour-Laperrière haben Langfilme etwas von einem Gefängnis, vor allem, weil ihre Realisierung so lange dauert: Man baut und baut und muss die ganze Zeit so unendlich viel beachten, dass man irgendwann zum Gefangenen seiner eigenen Phantasien und Ambitionen wird. Aus diesem Gedanken heraus hatte er sich für Archipel auch diese eher Jazz-gleiche Realisierungsweise überlegt, bei der er die Leitmotive vorgab und alle anderen Räume offerierte für individuelle Improvisationen. Wobei ein Film über einen Strom und seine Inseln so eine Arbeitsweise bei genauerer Betrachtung organisch in sich trägt... Will sagen: Dufour-Laperrière spiegelt letztlich das Sujet seines Films in dessen Realisierung.

 

Ein anderes Beispiel für seinen, nennen wir es: poeto-politischen, Feinsinn findet sich in einem Moment von Archipel, der das Publikum stutzen lässt. An einem bestimmten Punkt des Films wechselt plötzlich kurz die Sprache. Im Prinzip is Archipel in Québecer Französisch; und im Prinzip ist er ein Dialog zwischen einer weiblichen und einer männlichen Stimme auf ihrer Reise entlang des Sankt-Lorenz-Stroms und seiner 1000 Inseln, den realen und den imaginierten. Aber hier hört man plötzlich eine dritte Stimme in einer Sprache, die jenseits von Kanada wohl kaum jemand identifizieren kann – Innu-Aimun – und die nicht untertitelt wird. Innu-Aimun ist die Sprache der Innut, jener Première Nation, welche die Kolonialisten als Montagnais bezeichneten. Zu hören ist die Stimme der Lyrikerin Joséphine Bacon, welche eines ihrer Gedichte vorträgt. Für Dufour-Laperrière wäre es unredlich gewesen, diese Rezitation einfach zu untertiteln und damit so zu tun, als stünde Innu-Aimun gleich neben Französisch, was es auf einer ideellen Ebene natürlich tut, aber nicht auf einer gelebten – ein Unterschied, den man respektieren und sichtbar machen muss. Und so findet man erst im Abspann heraus, was Bacon sagte. Dort steht das gesamte Gedicht, in Französisch und Englisch, damit man es lesen kann – was die Art ist, wie die meisten Menschen ihre Lyrik erfahren, nämlich übersetzt auf einer Buchseite.

 

Und die Geschichte Québecs nun ist Dufour-Laperrière extrem wichtig: Bei Ville Neuve kann man szenenweise fast vergessen, dass hier eine Liebesgeschichte erzählt wird, so schwer hängt der historische Augenblick über dem Paar – der 30.10.1995, als mit einem Referendum darüber abgestimmt wurde, ob die Provinz Québec beim kanadischen Staat um ihre Unabhängigkeit ersuchen sollte. Das Ergebnis war überraschend knapp, es fehlte weniger als ein Prozent zum Aufbruch in die Selbstbestimmung. Ville Neuve erzählt von zwei ineinander verschränkten gegensätzlichen Bewegungen: Der Mann und die Frau kommen einander in den Tagen um die Abstimmung herum wieder so nahe, dass eine gemeinsame Zukunft möglich scheint – während Québec und Anglo-Kanada der Scheidung nie näher waren. Das Private ist nicht das Politische – aber einander spiegeln tun sie doch. In Archipel dann verschlingen sich diese Ebenen ineinander, auch wenn die beiden Hauptstimmen keinen Liebesdiskurs führen. Aber ihr Sprechen ist geprägt von einer tiefen Liebe, der zur Region Québec und ihrer widersprüchlichen, regelrecht widersinnigen Geschichte als Kolonialistin und sich heute vom englischsprachigen Landesrest als kolonialisiert Fühlende.

 

Mit seinem Schaffen, das so in sich geschlossen ist wie vielgestaltig in den Formeln und Mitteln, gelingt Dufour-Laperrière etwas Ausserordentliches: Er macht seine Heimat zu einem Beispiel, wie man sich den Komplexitäten der modernen Welt nähern kann. Dass er die Zuschauenden dabei betört, durch Schönheit, Sinnlichkeit seine Ideen vermittelt, macht ihn heute zu einer Seltenheit.

 

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Im Foyer das Stadtkinos Basel lädt eine feine Auswahl an Originalzeichnungen zu einem Blick in Félix Dufour-Laperrières Labor (in Zusammenarbeit mit dem Cartoonmuseum Basel).